Vom Verteidigungsministerium in den EU-Vorsitz: Von der Leyens Sprung nach oben

Nachdem im Mai das neue EU-Parlament von den Bürgern gewählt wurde, musste auch entschieden werden, wer Jean-Claude Juncker als Präsident der Kommission ablöst. Während des Wahlkampfes warben der niederländische Sozialdemokrat Timmermans und der deutsche Christdemokrat Weber für sich. Wie das Amt jetzt auf einmal an Ursula von der Leyen ging, fragt sich wohl halb Europa.

Fast ironisch klingt es nun, dass im EU-Parlament noch am 7.2.2018 mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen wurde, der neue Präsident müsse aus dem Kreis der Spitzenkandidaten kommen, damit die europäischen Bürger bei der Wahl über die Personalie mitentscheiden können. Mit diesem Abstimmungsergebnis ging auch eine Warnung an den Europäischen Rat, welcher aus den Regierungschefs der Mitgliedsländer besteht: Das Parlament sei bereit, jede Person abzulehnen, die nicht im Voraus als Spitzenkandidat benannt wurde. Auch die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP) hatten sich dem angeschlossen.

Auch am 28.5.2019, zwei Tage nach der Europawahl, wurde dieser Beschluss von den Fraktionsvorsitzenden der EVP, der Sozialdemokraten, der Grünen und der Liberalen bestätigt, indem sie beteuerten, von einem Kandidaten EU-weiten Wahlkampf und die Bekanntmachung von Person und Programm zu erwarten. Unter dem Einfluss von Emmanuel Macron fingen die Liberalen bereits an, sich zu distanzieren, während die Christdemokraten unter Weber noch ohne Zögern zu ihrem Spitzenkandidaten standen.
Erst in den folgenden Wochen wurde die informelle Große Koalition mit den Sozialdemokraten ohne mediales Aufsehen von der EVP beendet, und von da an waren Grüne, Linke und Sozialdemokraten mit ihrer Ablehnung von Regierungseinmischung bei der Präsidentschaftswahl allein.

Am 1.7.2019 fand ein Treffen zwischen Macron und den Regierungschefs der vier osteuropäischen Visegrad-Staaten (Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei) statt. Ungarns Staatschef Viktor Orban hatte bereits einen halben Monat vorher Weber und Timmermans als Feinde Zentraleuropas und der osteuropäischen Auffassung von Demokratie bezeichnet, deren Vorsitz unbedingt verhindert werden müsse.
Im Abend des Folgetages verkündete der polnische Vorsitzende des Europäischen Rates, Donald Tusk, offiziell die Nominierung der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für den Kommissionsvorsitz. Orbans Pressesprecher schrieb auf Twitter schon am Nachmittag vom Sieg über Weber und Timmermans, und dass die Visegrad-Staaten von der Leyen vorgeschlagen haben und unterstützen.

Die EVP erhob an diesem Tag offenbar keinen Protest und schwieg zum gebrochenen Wahlversprechen. Webers Frustration, die in Interviews mit ihm deutlich wurde, rückte in den Hintergrund. Die öffentlichen Entschuldigungen waren einerseits, das neue EU-Parlament hätte sich nicht über die Personalie einigen können, anderseits, wer von der Leyen nicht unterstützt wolle keine Deutsche oder keine Frau für den Posten.
Der Rücktritt Junckers ist für Oktober geplant, so lange hätte das Parlament also Zeit gehabt, einen neuen Vorsitzenden aus den Spitzenkandidaten zu wählen. Zur Zeit der Nominierung von Ursula von der Leyen hatte das neue Parlament gerade seine erste Sitzung gehabt, wobei etwa ein Viertel der Delegierten sich einarbeiten mussten, da sie im Mai erstmals ins Parlament gewählt wurden. Viel Zeit, sich zu einigen, hat man ihnen also nicht gelassen.

Am Montag den 15.7. verkündete Ursula von der Leyen, unabhängig vom Ergebnis der Abstimmung als Verteidigungsministerin zurückzutreten. Ob dahinter Siegessicherheit, Konsequenz oder Kalkül steckt, bleibt zur Eigeninterpretation offen. Das EU-Parlament wählte sie am Folgetag mit 383 Stimmen zur Kommissionspräsidentin. 747 Parlamentsmitglieder gaben ihre Stimme ab, womit die benötigte Mindestanzahl für von der Leyen 374 betrug. Sie gewann also mit nur 9 Stimmen.

Das Amt als Verteidigungsminister sollte zunächst an den aktuellen Minister für Gesundheit Jens Spahn gehen, überraschend wurde der Posten allerdings nun der CDU-Vorsitzenden Annegreth Kramp-Karrenbauer gegeben, welche Regierungsbeteiligung vorher ausschloss, um sich auf den Parteivorsitz zu konzentrieren. Dies dient offensichtlich, um Kramp-Karrenbauer in Position für die Nachfolge als Kanzlerin zu bringen.
Kanzlerin Angela Merkel hat sowohl für von der Leyen als auch für Kramp-Karrenbauer Stolz ausgedrückt und Unterstützung zugesichert. Es gilt als starkes Zeichen, dass diese drei Frauen nun so wichtige Ämter in europäischer und deutscher Politik innehaben, gerade da von der Leyen die erste Frau im EU-Kommissionsvorsitz ist. Gleichzeitig kommen aber auch von allen Seiten Zweifel, ob die von Skandalen verfolgte Ex-Verteidigungsministerin im Amt nicht nur vergeblich gegen ihre Opposition kämpfen wird. Mit Blick auf die Berateraffäre, das Gorch-Fock-Desaster, die “Zensursula”-Geschichte und den miserablen Zustand der Bundeswehr ist klar, wo diese Zweifel herkommen.

Ihr Amtsantritt soll am 1. November dieses Jahres stattfinden. Jetzt schon ist ihre Nominierung und Wahl sehr umstritten, sie wird also hart arbeiten müssen, um als Präsidentin der EU-Kommission den hohen Erwartungen der Parlamentsmitglieder und EU-Bürger gerecht zu werden. Die Herausforderungen unserer Zeit werden nicht auf sie warten.

 

Bild: Europaparlament @ flickr

Justin Löwe

Ich bin seit inzwischen neun Jahren als Jugendreporter unterwegs, stand schon mehrmals in der NOZ und möchte hier den Leuten mit möglichst hochwertigen Berichten die Interessen der jüngeren Generation näherbringen.

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